- Luther: Von der Reform zur Reformation
- Luther: Von der Reform zur ReformationIm Grunde ist es bis heute kaum vorstellbar, dass ein Akademiker, noch dazu ein frommer Theologe, eine alle Schichten der Bevölkerung erfassende Bewegung, ja einen Krieg, auslösen und den Verlauf dieser Reformation in einer Weise bestimmen konnte, dass sie von seiner Person kaum mehr ablösbar scheint. Wie konnte es dazu kommen? Martin Luther, zweiter Sohn einer Bergmannsfamilie, wurde am 10. November 1483 in Eisleben geboren. Nach eigenen Aussagen prägten die Angst vor dem Gericht Gottes und das Erlebnis, einem Blitzschlag nur knapp entgangen zu sein, sein Gottesbild und veranlassten ihn, 1505 in das Erfurter Kloster der Augustiner-Eremiten einzutreten und das Studium der Theologie aufzunehmen. Die intensive Beschäftigung mit Augustinus zusammen mit einem ausgeprägten individuellen Sünden- und Schuldbewusstsein verstärkte seine Heilsangst. 1512 zum Doktor der Theologie promoviert und mit einer Professur für Altes und Neues Testament betraut, war der Mönch Luther zum Subprior im Kloster der kleinen sächsischen Stadt Wittenberg und 1515 zum Distriktvikar mit 15 unterstellten Klöstern aufgestiegen.Diese äußerlich so erfolgreiche Phase seines Lebens scheint im Innern mit tief greifenden religiös-theologischen Zweifeln einhergegangen zu sein. Jedenfalls entwickelte Luther in den folgenden Jahren in Vorlesungen zur neutestamentlichen Briefliteratur, vor allem zum Römerbrief, seine reformatorischen Ansichten. Er erfuhr Gottes Gerechtigkeit jetzt nicht mehr primär als bedrohliche, strafende und richtende Instanz, sondern als Barmherzigkeit, als befreiendes Geschenk Gottes, mit dem er den Menschen trotz aller Sünde gerecht macht (Rechtfertigungslehre). Die Vorstellung, der Mensch könne ohne Einwirken göttlicher Gnade Gutes tun oder Gott aus eigenem Antrieb lieben, hielt er für Einbildung, die Theologie der Scholastik war ihm nur Wortklauberei.In dieser Situation musste er immer öfter feststellen, dass bei den Mitgliedern seiner Gemeinde Papiere aus dem benachbarten Brandenburg kursierten, die in seinen Augen die pastorale Situation negativ beeinflussen konnten. Bei den Pergamenten handelte es sich um im Namen des Papstes ausgestellte Dokumente, von denen behauptet wurde, sie könnten nicht nur die Lebenden, sondern sogar längst Verstorbene von den unerfreulichen Folgen ihrer Sünden, dem Leiden im Fegefeuer, bewahren. Und das, ohne sich mühsamer und anstrengender Bußleistungen zu unterziehen, sondern durch eine einfache finanzielle Transaktion. Während Friedrich der Weise in Sachsen den schwunghaften Handel mit diesen Ablassbriefen auch aus der Angst heraus unterbunden hatte, sie könnten die Wallfahrt zur Wittenberger Allerheiligenkirche und zu seinen eigenen Reliquiensammlungen finanziell beeinträchtigen, waren sie jenseits der Landesgrenze frei erhältlich; ein gewisser »Ablasstourismus« war die Folge.Was Luther allerdings nicht wissen konnte, als er am 31. Oktober 1517 seine berühmten 95 Thesen zum Ablass zur Diskussion stellte (die Überlieferung lässt dies mit einem Anschlag an die Schlosskirche in Wittenberg geschehen), war, dass ein Teil des Geldes aus dem Ablasshandel eben dem Erzbischof und Kurfürst von Mainz, dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg, aus finanzieller Bedrängnis helfen sollte, dem er seine Bedenken zu Gehör bringen wollte. Dieser schuldete dem Papst nämlich für die Erlaubnis zur gleichzeitigen Übernahme der Erzbistümer Mainz und Magdeburg, die eigentlich der Grundregel der Residenzpflicht und der Vermeidung der Ämterhäufung zuwiderlief, eine hohe Ausgleichszahlung. So sehr Luther davon überzeugt war, dass er auf sicherem Boden christlicher Glaubenslehre stand und dass der Erzbischof sich von den Missständen distanzieren werde, so wenig konnte er den unerwarteten Sturm öffentlicher Entrüstung vorhersehen, der statt des beabsichtigten gelehrten Disputs den eigentlichen Beginn der Reformation einleiten sollte.Als er auf seine Briefe an diverse Bischöfe keine Antwort erhielt, erläuterte Luther seine Position im »Sermon von dem Ablass und von der Gnade« für die breite Öffentlichkeit, während die stärker theologisch motivierten »Resolutionen« für Papst Leo X. bestimmt waren.In der Zwischenzeit war aufgrund einer Anzeige von Erzbischof Albrecht wegen Häresieverdachts ein Prozess gegen Luther eröffnet worden. Es folgten ergebnislose Verhöre auf dem Augsburger Reichstag im Oktober 1518, denen sich Luther durch Flucht entzog, um erst an den Papst und schließlich - trotz des einschlägigen kirchlichen Verbots - an ein allgemeines Konzil zu appellieren. Die Frage, ob die letzte Lehr- und Entscheidungsbefugnis beim Papst oder bei einem allgemeinen Konzil liegen müsse, war bereits auf früheren Konzilien kontrovers diskutiert worden, wobei sich das Papsttum nur mühsam gegen den Konziliarismus hatte durchsetzen können. Johannes Eck, einer der bekanntesten Theologen und Redner seiner Zeit, der in der entscheidenden Leipziger Disputation 1519 Luthers Gegner war, verstand es, ihn zu der Aussage zu provozieren, auch Konzilien könnten irren, einzelne hätten es auch getan, wie es der Fall des auf dem Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 verurteilten Jan Hus zeige. Damit waren die Grundzüge der Vorstellungen Luthers von der Kirche klar zutage getreten: Das Haupt der Kirche auf Erden ist Christus, weswegen sie eines Papstes nicht bedürfe. Grundlage und Quelle des Glaubens könne allein die Heilige Schrift bilden (»sola scriptura«).Nachdem Papst Leo X. die Auseinandersetzungen bislang als »Mönchsgezänk« abgetan hatte, drohte er Luther nun (1520) in einer Bulle mit dem Kirchenbann, falls er nicht innerhalb von 60 Tagen widerrufe. Hierauf antwortete Luther noch im selben Jahr mit programmatischen Schriften, in denen er seine Hauptanliegen zu Papier brachte: So versuchte er noch mit seiner Leo X. gewidmeten Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen«, Verständnis beim Papst zu wecken, indem er die Stellung des Christen zwischen Knechtschaft durch Bevormundung der weltlichen Autorität und notwendiger Freiheit als Problem darstellte. Er forderte aber auch die weltliche Obrigkeit auf, ihrerseits die kirchlichen Missstände zu beseitigen, und proklamierte das allgemeine Priestertum aller Gläubigen. In seinem Traktat »Von der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche« wollte er aufgrund des biblischen Befundes außer Abendmahl und Taufe bestenfalls noch die Buße als Sakramente gelten lassen. In der auf dem vierten Laterankonzil 1215 dogmatisch fixierten Transsubstantiation, der Wandlung von Brot und Wein im Abendmahl in Leib und Blut Christi, sah er zwar nur eine einfache Schulmeinung, hielt aber an der leiblichen Gegenwart Christi während der Messfeier, der Realpräsenz, fest. Um so nachdrücklicher wandte er sich gegen das Verständnis der Messe als Opfer und forderte - wie schon vor ihm Hus - den Laienkelch. Diese Schrift führte nicht nur zur Trennung vom Humanismus und von Erasmus von Rotterdam, sondern auch zu Protesten der Universität Paris und veranlasste sogar Heinrich VIII. zu einer Apologie, die ihm und den englischen Königen bis heute den Titel »Verteidiger des Glaubens« einbrachte.Die päpstliche Bulle hatte zum Verbrennen der anstößigen Schriften Luthers aufgefordert. Doch die Schriften, die in Lüttich, Köln, Wittenberg und anderswo unter großem Beifall dem Feuer übergeben wurden, waren Werke des kanonischen Rechts und von Luthers Erzgegner Johannes Eck. Luther selbst verbrannte unter Beifall zahlreicher Studenten demonstrativ das päpstliche Schreiben. Während der Kirchenbann eigentlich die sofortige Verhängung der Reichsacht durch die weltliche Gewalt verlangt hätte, lud Karl V. 1521 den exkommunizierten Luther zunächst zum Reichstag nach Worms, um ihn selbst zu Wort kommen zu lassen. Luther, der von einer jubelnden Menschenmenge empfangen worden war, hielt an seinen Ansichten fest und beschloss seine Rede statt des erwarteten Widerrufs mit den Worten: »Werde ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe überzeugt - denn ich glaube weder dem Papst noch Konzilien allein, da es am Tage ist, dass sie öfter geirrt haben -, so bleibe ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen und mein Gewissen und gefangen durch Gottes Wort. Daher kann und will ich nichts widerrufen. Denn gegen das Gewissen zu handeln ist beschwerlich, unheilsam und gefährlich. Gott helfe mir, Amen!«Noch bevor der Kaiser im Wormser Edikt ihn als Ketzer und Aufrührer verurteilen konnte, wurde Luther auf dem Rückweg von Worms von Rittern seines Landesherrn - wie zuvor verabredet - auf die Wartburg »entführt«, wo er das Neue Testament auf der Grundlage der griechischen Übersetzung des Erasmus innerhalb von wenigen Wochen ins Deutsche übertrug.Unterdessen zeigte der von seinen Anhängern Andreas Karlstadt und Gabriel Zwilling angezettelte Aufruhr, dass die Bewegung im Begriff war, sich zu verselbstständigen. So feierten die Genannten Weihnachten 1521 die Messe ohne liturgische Gewänder und spendeten die Kommunion unter beiderlei Gestalt, Ordensangehörige heirateten, eine neue Kirchenordnung wurde etabliert, und Geistliche der Wittenberger Pfarrkirche wurden von ihren Altären vertrieben; 1522 erreichten die Unruhen schließlich im Bildersturm einen neuen Höhepunkt. Luther kehrte von der Wartburg zurück und predigte gegen die Neuerer und Schwärmer, um die Ruhe wiederherzustellen.In den folgenden Jahren verbreitete sich das reformatorische Gedankengut durch das Wirken vieler Wanderprediger nicht zuletzt deswegen, weil bedeutende Bevölkerungsteile wie das Bauern- und Bürgertum hier ihre sozialen und politischen Anliegen verwirklicht sahen. Die bereits lange währende Unzufriedenheit und das erwachende Selbstbewusstsein des Bauernstandes entluden sich 1525 im Bauernkrieg. In seinen agitatorischen Predigten verstand es Thomas Müntzer als Feldprediger, die Bauern für seine Idee vom Gottesstaat zu begeistern. Er sah sich selbst in der Tradition der alttestamentlichen Propheten, die zur Umkehr mahnten und ihrem Volk im Befreiungskampf vorangingen. Luther, der sich ausschließlich als Theologe verstand, hatte sich nach anfänglichem Zögern auf die Seite der Fürsten gestellt und lehnte eine Politisierung seiner Lehre ab. So fand mit der blutigen Niederlage der Bauern auch die Gemeindereformation von unten ein jähes Ende; die Träger der Reformation waren von nun nicht mehr die Leute auf der Straße, sondern die Landesfürsten.Mehrere Reichstage hatten die Anwendung des Wormser Edikts den Landesherren überlassen, bis ein allgemeines Konzil die Lage geklärt habe. Konfessionelle Bündnisse reformatorisch gesinnter Fürsten auf der einen und Zusammenschlüsse ihrer papsttreuen Gegner auf der anderen Seite führten zur religiösen Spaltung des Landes und bereiteten die Religionskriege vor. 1530 überreichten die evangelischen Stände auf dem Reichstag in Augsburg das Augsburger Bekenntnis (»confessio augustana«), das - getragen vom Versöhnungswillen Philipp Melanchthons - Luthers engstem Mitarbeiter seit 1519 - versuchte, eine Brücke zwischen den Reformatoren und dem traditionellen Kirchenverständnis zu schlagen. Doch noch als Luther im Jahre 1546 starb, standen die beiden Parteien einander nahezu unverändert gegenüber. Die Wiederherstellung der Einheit konnte auch das Konzil von Trient von 1545 bis 1563 nicht mehr erreichen, die Protestanten folgten nicht einmal der Einladung. So widmete man sich zwar der Behebung kirchlicher Missstände, grenzte sich gleichzeitig aber auch gegen die Reformatoren ab. Schließlich wurde die konfessionelle Spaltung Deutschlands mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 besiegelt, der zwar keine Religionsfreiheit im modernen Sinne, aber eine friedliche Koexistenz der Parteien ermöglichen sollte. Die Untertanen hatten dem Bekenntnis des jeweiligen Landesherrn zu folgen (»Cuius regio, eius religio«), immerhin wurde den Andersgläubigen ein Auswanderungsrecht zugebilligt. Der angestrebte Friede erwies sich jedoch als brüchig; beidseitige Übergriffe blieben nicht aus, und die Gewalttätigkeiten sollten im Dreißigjährigen Krieg wieder aufbrechen. Erst der Westfälische Friede brachte 1648 mit der Festschreibung der konfessionellen Besitzstände das Ende der religiösen Konfrontation.Dr. Ulrich Rudnick
Universal-Lexikon. 2012.